Muttertag

Es begann schon am Freitag. Zu Schichtbeginn grüßte uns der Meister mit einem überdimensionalen Lächeln. Fast hätte er uns die Hand geschüttelt. Wir trugen es mit Fassung. Noch. Als er dann aber eine Kollegin, der es nicht gut ging, nach Hause schickte und sich selbst an ihren Arbeitsplatz setzte ("Damit Sie keinen Lohnverlust erleiden"), fingen die ersten an, sich gegenseitig in den Arm zu kneifen.
Dann kam die Betriebsversammlung. "Weil Muttertag ist...", begann der Chef, und dann kam es Schlag auf Schlag: "...hat die Geschäftsleitung beschlossen, daß ab sofort die Schwangerschafts- und Mutterschaftsbestimmungen strikt eingehalten werden. Meister Müller, in dessen Abteilung im letzten Monat drei Fehlgeburten vorkamen, wird entlassen. Fristlos selbstverständlich. Noch im Mai wird der Betriebskindergarten unserer Firma eröffnet. Daß der Besuch kostenlos ist, versteht sich von selbst. Natürlich wird die Firma Ihnen ab sofort auch gerne freigeben, wenn Ihre Kinder krank sind - ohne Formalitäten und für Kinder bis zu 14 Jahren. Das gebietet uns allein schon unser Verantwortungsgefühl für die Kinder. Und wenn Sie zu Vorsorgeuntersuchungen müssen, dann melden Sie sich einfach beim Meister ab, und...und..."
Als wir schließlich aus dem Betrieb gingen - selbstverständlich nicht, ohne eine neue Arbeitsordnung erhalten zu haben, in der die Senkung der Akkordsätze und mehr Pausen, bessere Gesundheitsversorgung usw. festgehalten waren - standen vor dem Tor einige stadtbekannte Politiker. Sie verteilten Flugblätter. "Weil Muttertag ist..." Verkündet wurden Gesetze und Beschlüsse von Bundestag, Landtag und Stadtrat:
"l. Das staatliche Kindergeld wird erhöht. Begründung: Kein Kind kann von diesen geringen Kindergeld im Monat ernährt und gekleidet werden. 2. Es werden so viele Kinderkrippen und Kindergärten gebaut, daß jedes Kind einen Platz bekommen kann. Die Öffnungszeiten werden geändert. Nulltarif wird eingeführt. 3. Es wird dafür gesorgt, daß mehr Ärzte zugelassen werden, mehr Krankenhäuser mit mehr Personal zur Verfügung stehen. Die ärztliche Versorgung und insbesondere die Vorsorge ist kostenlos. Begründung: Es ist ein Skandal, daß in unserem reichen Land die Kindersterblichkeit mit 2,5 Prozent mit zur höchsten in der Welt gehört. Das muß geändert werden. Koste es, was es wolle. 4. Alle Lehrer sind sofort einzustellen. Berufsverbote werden verboten... 5. ... 6. ..."
Als wir - nur mühsam den Sinn dieser ungewöhnlichen Flugblätter begreifend - die Straße hinuntergingen, fielen uns bereits die Menschenaufläufe vor den Geschäften auf. "Weil Muttertag ist..." Handgemalte Schilder waren es, die die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zogen. Vor allem vor den Geschäften für Kinderkleidung und Spielsachen. "Weil Muttertag ist, senken wir Geschäftsleute die Preise für Kinderkleidung", stand dort. Aber das war noch nicht alles. In den Schaufenstern für Kinderspielzeug klafften große Lücken. Das Kriegsspielzeug war verschwunden. Das verbliebene gute Spielzeug war mit schwindelerregend niedrigen Preisen ausgezeichnet. "An unseren Kleinen wollen wir keinen Profit machen", hatte jemand auf ein darüberhängendes Transparent gemalt. Auf die gleiche Idee waren auch die Besitzer der Selbstbedienungsläden gekommen. Frauen, die aus den Geschäften herauskamen, berichteten, daß die Süßigkeitenauslagen nicht mehr in Armhöhe von zwei- bis dreijährigen Kindern angebracht und sogar die Süßigkeitenkörbe vor den Kassen verschwunden seien.
Halb betäubt und voller Reue über mein bisheriges Mißtrauen, ja, meine Verachtung über die Frauen- und Kinderfeindlichkeit dieses Staates wankte ich nach Hause. Wie hatte ich nur glauben können, daß in dieser freiheitlich-demokratischen Grund-Ordnung die Gleichberechtigung und die Fürsorge für die Mütter immer nur auf dem Papier stehen würde...
Inmitten dieser tiefsinnigen Gedanken ließ mich ein schauerliches, schrilles Geräusch zusammenzucken... Fast wäre ich aus dem Bett gefallen... Und aus meinem Radiowecker erschallte die ölige Stimme der Morgenandacht. Sonntag. Muttertag. "Weil Muttertag ist, danken wir allen deutschen Müttern für ihren aufopferungsvollen Dienst für die Gemeinschaft. Mögen sie auch in diesen unruhigen Zeiten daran denken, daß Gott der Herr selbst ihnen ihren Platz gewiesen hat - in der Kirche, in der Küche und an der Seite ihrer Kinder..."

» zurück